Rückblicke
Die Geschichte der Straßenbahnen in Text und Bild
Die Geschichte der Straßenbahnen in Text und Bild
Die legendäre Linie 80
Das, was meiner Lebensart während der Schulzeit am meisten zuwider war, war das Fach „Turnen“. Jetzt gab es im Realgymnasium RG III in der Hagenmüllergasse aber nicht nur das „normale“ Turnen, sondern zur Verschärfung der Situation einmal pro Woche auch noch „Nachmittagsturnen“!
Nachdem ich den ersten Winter turntechnisch im Schul-Turnsaal überstanden hatte, kam nun das Nachmittagsturnen auf der Birkenwiese. Diese Birkenwiese, neben dem Donaukanal gelegen, bot den Bundesschulen der Umgebung die Möglichkeiten der turnerischen Schönwettergestaltung.
Obwohl ich mit dem dort üblichen Fußballspielen nicht seelenverwandt war, freute mich aber der Aufenthalt auf der Birkenwiese im Laufe der Zeit doch immer mehr, da sich neben deren Areal der Bahndamm einer einzigartigen Wiener Straßenbahnlinie befand: Der Linie 80, deren Zügen ich meine Aufmerksamkeit immer mehr angedeihen ließ. Und diese Linie 80 wurde vom Bahnhof Erdberg aus betrieben.
Diese Remise Erdberg, die damals nahe meiner Wohnung lag, war sozusagen mein „Heimatbahnhof“. Sie wurde von mir natürlich besonders oft heimgesucht (viele Jahre später wurde sie sogar zum „Wiener Straßenbahnmuseum“ und damit auch zu meiner beruflichen „Heimat“).
Und wie so oft war es ein Verschieber, der mir damals Zugang zu vielen sonst unerreichbaren Bereichen verschaffte und der mich auch sehr ausgiebig bei Verschubfahrten selbst fahren ließ. Mit der Zeit wurde ich dabei auch mit vielen Revisionsschlossern des Bahnhofes Erdberg bekannt und sie nahmen mich oft zu den Arbeiten an den Fahrzeugen mit, was eigentlich streng verboten war.
Nun war es damals so, daß die legendäre Überland-Linie 80 an Werktagen tagsüber mit Beiwagen verkehrte, die am Abend mangels Bedarfes an der Endstation Lusthaus abgehängt und stehengelassen wurden. Diese vier Beiwagen wurden aber jeden Abend von eben diesen Revisionsschlossern mit einem Sondertriebwagen in die Remise zurückgebracht. Meist wurden dafür K-Triebwagen verwendet, aber sehr oft kam auch der ehemalige Exkursionstriebwagen 2003 mit Bogenfenstern und manchmal auch ein B- oder T1-Triebwagen zum Einsatz.
Ich wartete nun fast jeden Werktag-Abend zweimal bei der Stadionbrücke auf den Sondertriebwagen, in den ich einsteigen durfte, worauf mir der jeweilige Fahrer mit einer hohen Trefferquote bereitwillig Platz beim Fahrschalter machte, um sich im Wageninneren mit dem Zugbegleiter zu unterhalten.
Außer der totalen Illegalität war die Sache aber nicht wirklich gefährlich, da die Strecke des 80ers von der Stadionbrücke bis zur Endstation Lusthaus ausschließlich als eigener Bahnkörper ausgeführt war und mein Fahrvergnügen daher durch keinerlei Individualverkehr gestört wurde. In den Jahren 1964 und 1965 bin ich auf diese Weise schätzungsweise an 200 Werktagen jeweils zweimal die gesamte Strecke selbst gefahren, wodurch ich mit 15 Lebensjahren schon eine beachtliche „Fahrpraxis“ speziell auf den schwierig zu bedienenden Schleifringfahrschaltern erwerben konnte.
Und zu diesen Beiwagen-Überstellfahrten gab es eine Anekdote, die gerne in Erdberger Bahnhofskreisen kolportiert wurde. Zuerst zu den Fakten: Ein Wiener Triebwagen darf aus bremstechnischen Gründen höchstens zwei Beiwagen befördern, daher die jeweils zweimalige Fahrt zum Lusthaus für vier Beiwagen.
Auf der damaligen Stadtbahn fuhren aber Züge, die aus maximal neun Wagen bestanden. Allerdings waren die Betriebsbedingnisse auf der Stadtbahn auch grundlegend anders als bei der Straßenbahn.
Es hatte sich aber ergeben, daß ein Stadtbahnfahrer strafweise zum Wagenrevisionsbetrieb des Bahnhofes Erdberg versetzt worden war. Als dieser einmal mit einem Triebwagen zum „Beiwagenholen“ zum Lusthaus geschickt wurde, nahm er kurzerhand gleich alle vier Beiwagen mit. Auf die entsetzte Frage des Werkmeisters, was er sich dabei gedacht habe, kam die lapidare Antwort, daß er nichts Böses im Sinn gehabt hätte, da er an Stadtbahndimensionen gewöhnt sei, wo ein Fünf-Wagenzug eigentlich eine kleine Einheit („a Lercherl“) sei und er aus Einfachheitsgründen eben gleich alle vier Wagen mitgenommen habe.
Ob es sich wirklich so zugetragen hat, kann ich nicht sagen, aber die Mär soll auf einer wahren Gegebenheit beruhen…..
Aber die wundervolle Linie 80, die entlang des Donaukanals durch Praterauen und Waldgebiet führte – daher der wienerische Spitzname „Pletschenexpress“ – (Pletschen = großes Blatt), hatte wegen des Baubeginns für die Ostautobahn (A4) leider ein Ablaufdatum.
Am letzten Betriebstag, an dem durchwegs „alte“ Fahrer und Schaffner des Bahnhofes Erdberg zum Fahrdienst eingeteilt waren, war es natürlich Ehrensache, daß auch ich mich von meiner „Lehrstrecke“ verabschiedete.
Und so verkehrte die 80er-„Blaue“ am 17. August 1969 leider zum letzten Mal….
Das Fahrpersonal war – je nach Temperament – traurig, betrübt oder den Tränen nahe. Ein letztes Mal noch von der Rotundenbrücke über die Schüttelstraße und neben dem Donaukanal zum Lusthaus und zurück, dann war eine große Jugenderinnerung Geschichte. Das Schlimme daran war jedoch, daß es am nächsten Tag – meinem 20. Geburtstag – keinen 80er mehr gegeben hat!
Daß am selben Tag auch das Massenspektakel „Woodstock“ beendet worden war, wird natürlich für den Rest der Menschheit wichtiger gewesen sein, aber es ist wohl zu verstehen, daß mich die 80er-Einstellung stärker betroffen hat!
Als einzige Erinnerung an die Linie 80 gibt es bei der Ostbahnbrücke noch die offizielle Benennung des darunter verlaufenden Weges als „Prater 80er Linie“…….